Was geschieht mit einem, wenn man plötzlich in einem fremden Land die Freiheit verliert. Persönliche Erlebnisse und Reflektionen.

Lange haben wir die Corona-Meldungen nur bedingt ernst genommen, eine Grippe mehr, vielleicht etwas schlimmer als Sars, aber eben eine Grippe, die wieder vorübergeht. Die Medien schiessen sich auf das Thema ein und die Politiker agieren natürlich so, dass ihren politischen Karrieren nichts geschehen kann. In Südamerika waren wir weit ab vom Schuss und beobachteten die ganze Situation als Unbeteiligte aus Distanz. Die Reaktionen der Politik kamen jedoch immer näher, zuerst beschlossen die Mercosur-Staaten die Grenzen zu schliessen. Wir reagierten darauf gelassen, wollten wir doch erst in etwa drei Wochen von Argentinien nach Uruguay reisen. In der Provinz Mendoza mussten wir unser Visum verlängern, was im Normalfall eine Aktion von etwa einer Stunde und völlig unproblematisch ist. Diesmal war es plötzlich ein Problem. Nur mit äusserster Mühe konnten wir dabei einer Quarantäne entgehen, da wir bereits drei Monate ununterbrochen in Argentinien waren. Der aufwendige Prozess mit Beamten, die in der Situation überfordert waren, da sie noch viel zu neu war, dauerte zwei Tage. Wir hatten Glück, wir erhielten eine ausserordentliche Visumverlängerung. Unser Aufenthalt war somit wieder legalisiert. Unsere Reiseplanung sah vor, dass wir aus der Provinz «Mendoza» durch die Provinz «La Pampa» in die Provinz «Buenos Aïres» fahren wollten.

Die Nachricht, dass die Provinzgrenzen ebenfalls geschlossen werden, erreichte uns mehr zufällig von einem Strassenpolizisten in «La Pampa». Der Polizist hatte den Auftrag, uns von unserem Standplatz in einem kleinen Bauerndorf zu vertreiben, weil die Bevölkerung keine Europäer in ihrem Dorf wünschte. Es war der erste persönliche Schock, bis dato wurden wir immer mit viel Gastfreundschaft und Interesse aufgenommen. Wir konnten normalerweise mit der Bevölkerung über ihre Probleme reden und uns gut austauschen. Unter Protest haben wir alles zusammengepackt und sind bis kurz vor Mitternacht bis über die Provinzgrenze nach Buenos Aïres gefahren. Psychologisch war das für uns eine Flucht. Wir mussten noch nie in unserem Leben vor etwas fliehen! Wir, auf der ganzen Welt geliebte Schweizer, sind unerwünschte Personen. Ein Fakt, der uns echt zu denken gab.

Als nächstes kam die Meldung, dass Argentinien ab dem 21. März bis Ende Monat eine allgemeine Ausgangssperre verhängen würde. Bei Nichteinhaltung wurde mit massiven Gefängnisstrafen gedroht. Wir erhielten diese Meldung auch offiziell vom EDA. Da wir Bekannte in der Provinz Buenos Aïres haben, fragen wir sie um Unterkunft an. Wir wurden sofort eingeladen und sind den ganzen Tag gefahren, damit wir es auf ihre Farm schafften, bevor die Ausgangssperre in Kraft trat. Die zum Teil aggressiven Polizeikontrollen mussten wir über uns ergehen lassen, immerhin konnten wir unser Ziel sicher erreichen. Andere Reisekollegen hatten weniger Glück, sie wurden auf einem Campingplatz mit anderen Ausländern eingesperrt, wieder andere wurden unter Androhung von körperlicher Gewalt vertrieben und nur dank einem Konsul an einen sicheren Ort geleitet.

Unsere Gastgeber sind sehr grosszügig. Auf ihrer Farm können wir in ihrem Garten stehen und an ihrem sozialen Leben teilnehmen. Wir werden zu ihren Essen eingeladen und können fast nichts zurückgeben. Wir können nur nehmen und nicht geben! Wie können wir damit umgehen? Wir wissen es nicht. Eine weitere Veränderung die wir verarbeiten müssen. Die Gastfreundschaft ist hier unendlich herzlich, wir sind selbstverständlich Teil der Familie.

Wir reisen in unserem eigenen Reisemobil und haben somit unsere Wohnung immer dabei, waren bis dato also völlig frei und unabhängig. Alle öffentlichen Campingplätze wurden geschlossen, die Dörfer wollen uns nicht auf ihrem Grund und Boden, eine schwierige Situation. Das Befahren der Strassen ist nur mit einer Spezialerlaubnis möglich. Unsere Freiheit und Unabhängigkeit sind damit völlig dahin. Wir sind nicht mehr in der Lage, über unsere Aktivitäten selbst zu entscheiden, wir sind abhängig von der Gutmütigkeit der lieben Gastgeber, aber auch von der Macht einer fremden Regierung. Eine Situation, die es zu verarbeiten gilt. Wir können als freiheitsliebende und freiheitsgewohnte Menschen mit solchen Umständen nicht umgehen. Wir waren gewohnt geschätzt zu werden, jetzt ist das nicht mehr so. Unser allenfalls überdimensioniertes Selbstwertgefühl muss revidiert werden. Ein schmerzvoller Prozess.

Unsere Werte müssen ebenfalls neu sortiert werden. Maslow lässt grüssen, wir stürzen gerade von der obersten auf die unterste Ebene ab. Es geht vielmehr um das Überleben als um die Verwirklichung. Besitztümer sind nur noch wichtig, sofern sie unser Leben sichern. Was wir heute schon wissen ist, dass, falls wir in unser altes Leben zurückkehren können, wir daran Einiges ändern werden. Interessanterweise fällt uns das sehr viel einfacher als die Anpassung des Selbstwertgefühls und der Freiheit.

Spannend zu beobachten ist ebenfalls, wie wir Menschen uns in schwierigen Situationen zusammenrotten. Wir kommen uns näher und fühlen uns in einer grösseren Gemeinschaft sicherer. Die Kriegsgeneration, vor allem ausserhalb der Schweiz, hat das alles schon erlebt, wahrscheinlich viel massiver als wir bis jetzt, für sie sind diese Gedanken nichts neues, aber für uns, die wir als Hedonisten aufgewachsen sind, sind sie schmerzvoll.